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Leitartikel des Direktors unserer Zeitung

Menschlich bleiben durch Lesen

 Menschlich bleiben durch  Lesen    TED-031
09. August 2024

Der Brief über die Bedeutung der Literatur in der Bildung, den Papst Franziskus an die Priester, an »alle pastoralen Mitarbeiter«, aber auch an »alle Christen« richtet, ist ein sehr reichhaltiger Text, reich an Ideen und Inhalten, die es alle verdienen, behandelt und vertieft zu werden. Für all diejenigen, die im Bereich von Bildung und Erziehung tätig sind, sei eine »eifrige Beschäftigung mit der Literatur« notwendig, sie müssten Gefallen am Lesen finden. Der Tonfall des Briefes ist geprägt von einer gewissen Dringlichkeit, denn es gibt da ein Problem unter den vielen, die Franziskus am Herzen liegen, nämlich das der »Sensibilität«.

Es ist sicherlich lohnend, sich heute bei einer ersten Lektüre auf dieses zentrale Thema des päpstlichen Textes zu konzentrieren, ein Thema, das mit der schwierigen Beziehung zwischen den Menschen unserer Zeit und dem Christentum zusammenhängt. Daher, so der Papst, bestehe »das Problem des Glaubens heute nicht in erster Linie darin, mehr oder weniger an die Lehrsätze zu glauben. Es geht vielmehr um die Unfähigkeit so vieler Menschen, sich angesichts Gottes, seiner Schöpfung, der anderen Menschen anrühren zu lassen. Hier besteht also die Aufgabe, unsere Sensibilität zu heilen und zu bereichern.« In diesem Zusammenhang zitiert Franziskus zwei große, sehr unterschiedliche Dichter, T.S. Eliot und J.L. Borges, um die Begrifflichkeit dieses Problems zu präzisieren, das Eliot »emotionale Unfähigkeit« nennt und das der Papst angeregt von Borges als »geistige Taubheit« bezeichnet. Es gibt einen dritten – im Text nicht zitierten – Autor, der in seinem unverwechselbaren Stil dieselbe Dringlichkeit zum Ausdruck bringt: Franz Kafka. Angesichts dieser »Benommenheit« des heutigen Menschen, sollte man »nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen«, durch die das Gewissen »breite Wunden« bekommt und dadurch »empfindlicher«, sensibler, wird. Der Schriftsteller verwendet in seinem Brief an Oskar Pollak vom November 1903 harte, gewaltsame Bilder: »Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? […] Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.« Diese starke, schonungslose Erfahrung bewirke, dass die Leser, so der Papst, »noch sensibler für die volle Menschheit Jesu, des Herrn, werden«.

Der Brief über die Bedeutung der Literatur kam am 4. August heraus, einen Tag nachdem sich der Todestag von Flannery O’Connor zum 60. Mal jährte. Sie vertrat die Ansicht, dass die Literatur die »inkarnatorischste« aller Künste sei. Der kritische Punkt sei dies: die Verdunstung des Glaubens an die Inkarnation. Dieselbe Sorge brachte der Papst bereits in Evangelii gaudium zum Ausdruck, wo er vor einer »Art spirituellen Konsumismus« warnte, der dem »krankhaften Individualismus entgegenkommt«, denn »mehr als im Atheismus besteht heute für uns die Herausforderung darin, in angemessener Weise auf den Durst vieler Menschen nach Gott zu antworten, damit sie nicht versuchen, ihn mit irreführenden Antworten oder mit einem Jesus Christus ohne Leib und ohne Einsatz für den anderen zu stillen« (Nr. 89). Das Gegenmittel gegen den entkörperlichten spirituellen Konsumismus ist die Literatur. In der Kurzen Erzählung vom Antichrist des russischen Dichters Solowjew ist der Starez Johannes als einziger Christ in der Lage, den Verführungen des Antichristen zu widerstehen, der eine »humanitäre«, »gute« Kirche vorschlägt, aber ohne Christus. Der Starez sagt: »Das Teuerste am Christentum ist für uns Christus selbst – Er Selbst, und alles, was von Ihm kommt; denn wir wissen, dass in Ihm die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt.«

Aber wie kann die Lektüre eines narrativen Textes diesen Widerstand gegen die Auslöschung des Menschlichen und damit des Christlichen bewirken? Mit einem Zitat von C.S. Lewis bemerkt der Papst: »Durch die Lektüre eines literarischen Textes werden wir in die Lage versetzt, ›durch die Augen anderer zu sehen‹, und erlangen so einen Blickwinkel, der unsere Menschlichkeit weitet. Dadurch wird in uns die empathische Kraft der Vorstellungskraft aktiviert, die ein grundlegendes Vehikel für die Fähigkeit ist, sich mit dem Standpunkt, dem Zustand, dem Gefühl der anderen zu identifizieren, ohne die es keine Solidarität, kein Teilen, kein Mitgefühl, keine Barmherzigkeit gibt. Durch das Lesen entdecken wir, dass das, was wir fühlen, nicht nur uns gehört, sondern universell ist, so dass sich auch der verlassenste Mensch nicht allein fühlt.«

Als Trainingsort für Sensibilität, Barmherzigkeit, für eine Unterscheidungsgabe, die nicht zu summarischen und »konventionellen« Urteilen führt, verfeinert und vermenschlicht die Literatur vor allem den Blick auf die Realität der Welt und des Menschen, indem sie »die Götzen der selbstbezogenen, fälschlich selbstgenügsamen, statisch konventionellen Sprachen zu zerstören [vermag], die manchmal sogar unseren kirchlichen Diskurs zu verunreinigen drohen und die Freiheit des Wortes einsperren«. Es ist erneut eine Frage des Blicks und der Erziehung des Blicks durch die Literatur. So unterstreicht der Papst: »Der Blick der Literatur erzieht den Leser dazu, nicht mehr selbst im Mittelpunkt zu stehen, zum Gefühl der Begrenzung, zum Verzicht auf die kognitive und kritische Beherrschung der Erfahrung und lehrt ihn eine Armut, die eine Quelle außerordentlichen Reichtums ist. Indem der Leser die Vergeblichkeit und vielleicht sogar die Unmöglichkeit erkennt, das Geheimnis der Welt und des Menschen auf eine antinomische Polarität von wahr/falsch oder gerecht/ungerecht zu reduzieren, akzeptiert er die Pflicht zur Beurteilung nicht als Instrument der Beherrschung, sondern als Anstoß zum unablässigen Zuhören und als Bereitschaft, sich in jenen außergewöhnlichen Reichtum der Geschichte hineinzubegeben, der auf die Gegenwart des Heiligen Geistes zurückzuführen ist, der auch als Gnade gegeben ist: das heißt als unvorhersehbares und unbegreifliches Ereignis, das nicht vom menschlichen Handeln abhängt, sondern das Menschliche als Hoffnung auf Erlösung erneut definiert.«

Von Andrea Monda