Die Leiche des 23-jährigen Hersh Goldberg-Polin wurde zusammen mit den Leichen von fünf anderen Geiseln in Gaza durch das israelische Militär entdeckt. Seine Mutter hatte eine Videobotschaft an den Papst geschickt und ihn im Vatikan getroffen. Unser Autor hat sich seit vergangenem Oktober mit ihr angefreundet.
Ich traf Rachel ein paar Tage nach dem
7. Oktober. Ein israelischer Freund hatte uns miteinander in Kontakt gebracht. Ich rief sie an und schlug vor, dass wir uns in einem Café in der Altstadt von Jerusalem oder in einem Hotel treffen sollten. Aber sie bestand darauf, dass ich zu ihr nach Hause komme, wo auch ihr Mann Jon und die beiden jüngeren Schwestern von Hersh waren. Es macht einen großen Unterschied, wenn ein Interview im Haus des Gesprächs-partners stattfindet. Man versteht so viel mehr, man taucht in seine Privatsphäre ein. An diesem stillen, noch sommerlichen Morgen im Spätoktober ließ ich mich auf ihren Schmerz ein, auf ihre religiöse Sensibilität, auf ihre zarte und kraftvolle Stärke, auf ihr Mitgefühl für die Leidenden. Und ich bin nie wieder herausgekommen. Denn wir haben uns in diesen elf Monaten des Kampfes und des Schmerzes immer wieder gesehen.
Ich würde meinen, dass wir Freunde geworden sind. Wir sprachen nicht über die Entführung oder den Krieg oder die Politik, sondern sie erzählte mir alles über Hersh. Über seine 23 Jahre. Davon, dass er acht Jahren alt war, als sie von den USA nach Israel zogen. Von seiner Neugierde auf die Welt und die Menschen. Von seinen Reisen per Anhalter durch Europa. Von seiner Liebe zu Italien. Von den Tickets, die er bereits gekauft hatte, um ein Jahr lang um die Welt zu reisen. Von seiner Leidenschaft für die Musik, die ihm später bei diesem verdammten Supernova-Konzert zum Verhängnis wurde. Von seiner Ausbildung zum Rettungssanitäter (»Aber sag das nicht, weil es für ihn gefährlich werden könnte, wenn die Entführer davon erfahren…«). Von seiner ausgeprägten Kontaktfreudigkeit, die ihm viele Freunde einbrachte, »auch Araber«. Kurzum, ein schlichtes und klares Porträt eines guten Jungen mit einer starken Lebensfreude.
Ich war beeindruckt von der Gelassenheit dieser Frau, Ausdruck einer tiefen inneren Spiritualität. Und ich war beeindruckt von ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit, Stärke mit Sensibilität zu verbinden. Kein Wort der Wut, der Verzweiflung oder des Hasses kam aus ihrem Mund. Sondern nur Worte der Liebe: »In Gaza gibt es Mütter, die so leiden wie ich, und viele noch mehr als ich, weil sie nicht einmal mehr Hoffnung haben«; und: »Ich bin überzeugt, dass Hersh jetzt auch in Gaza von einer Mutter betreut wird, und das tröstet mich, denn Mütter kennen keinen Hass.« Ihre Geschichte hat mich berührt. Sie hat es bemerkt. Wir umarmten uns fest. Eine Umarmung, die das Zeichen eines Paktes war. Es schien ein wenig paradox, dass sie es war, die mich tröstete.
Bevor wir gingen, fragte sie mich: »Könntest du Papst Franziskus eine Nachricht übermitteln?« »Ich weiß nicht, wir können es versuchen.« Wir nahmen ein kurzes Video auf, in dem Rachel nicht um etwas bat, sondern dem Papst für seine Worte und Gebete für die Freilassung der Geiseln dankte. Sobald ich die Treppe herunterkam, schickte ich das Video an meinen Vorgesetzten, damit er einen Weg finden konnte, es dem Papst zu zeigen.
Ein paar Tage später beschloss der Papst, eine Delegation von Verwandten der Geiseln im Vatikan zu empfangen; Rachel war diejenige, mit der er am längsten sprach. Am Ausgang wurden sie von israelischen Leibwächtern eskortiert, die Journalisten daran hinderten, sich ihnen zu nähern. Sie war jedoch überrascht, mich in Rom zu sehen, und schlich sich aus der Absperrung, um mich zu umarmen und mir von der bewegenden Begegnung mit dem Papst zu berichten.
In diesen elf Monaten sahen wir uns dann noch mehrere Male. Ich habe sie Kardinal Zuppi vorgestellt, als er nach Jerusalem kam. Das letzte Mal vor ein paar Wochen gemeinsam mit meiner Kollegin Maria Gianniti von der RAI, die ihr ein schönes Interview gewidmet hat. Sie erzählte mir von der Wohltat, die das ständige Beten der Psalmen für sie bedeutet. Und, immer hoffnungsvoll, sagte sie mir: »Sobald sie ihn freilassen, wirst du unter den ersten sein, die ich anrufe, um mit uns zu feiern.«
Dann erhielt ich letzten Samstagabend einen Anruf von einem israelischen Freund: »Es tut mir leid, dir das zu sagen, aber sie haben sechs Leichen in Gaza gefunden, und es scheint, dass eine davon Hersh ist. Hersh wird nicht mehr zurückkommen.« So haben es die Hamas-Verbrecher beschlossen, und diejenigen, die wegen ihrer eigenen armseligen Interessen nicht über seine Freilassung verhandeln wollten. Ich habe in diesen elf Monaten schreckliche Dinge gesehen und geschrieben: 40.000 Tote in Gaza, viele im gleichen Alter wie Hersh. Aber dieser Anruf stürzte mich in Verzweiflung. Denn so wie ich in das Leben von Rachel und Jon eingetreten war, so war Hersh in meines eingetreten.
Rachel sagte mir einmal: »Ich weiß, dass ihr Christen viel mit Vergebung arbeitet. In dieser Situation von Vergebung zu sprechen, ist schwierig, vielleicht unmöglich. Aber es gibt eine Sache, die den Weg für zukünftige gegenseitige Vergebung öffnen kann. Und das ist, sich des Leidens der anderen bewusst zu sein. Wir sind nicht die einzigen, die leiden. Hinter der Mauer in Gaza gibt es so viele unschuldige Menschen, die leiden. Wir können das nicht ignorieren.« Rachel ignoriert es nicht.
(Orig. ital. in O.R. 2.9.2024)
Von Roberto Cetera