»Wer die Vergangenheit vergisst, ist verdammt, sie zu wiederholen.« Dieser Satz von George Santayana ist in dreißig Sprachen auf dem Denkmal am Eingang zum Konzentrationslager Dachau eingraviert. Es ist unmöglich, nicht an diesen Satz erinnert zu werden, wenn man die ers-ten Ansprachen von Papst Franziskus auf seiner Reise nach Luxemburg und Belgien gehört hat, in denen er von einem »vergesslichen« Europa sprach, als ob es von einer
»Sklerose« befallen wäre, die es dazu verleitet, die tragischen Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, so der Papst in Luxemburg. Am nächsten Tag in Belgien wiederholte er den Gedanken, als er feststellte, dass die Geschichte, die »magistra vitae«, zu oft unbeachtet bleibe: »Wenn der Mensch aufhört, sich an das Vergangene zu erinnern und daraus zu lernen, besitzt er die beunruhigende Fähigkeit, erneut zu fallen – auch nachdem er sich endlich wiederaufgerichtet hat –, und das Leid und den entsetzlichen Preis zu vergessen, den vorangegangene Generationen bezahlt haben. In diesem Fall funktioniert das Gedächtnis nicht, es ist merkwürdig, es sind andere Kräfte, sowohl in der Gesellschaft als auch in den Menschen, die uns immer wieder in dieselben Dinge verfallen lassen. In diesem Sinne ist Belgien für das Gedächtnis des europäischen Kontinents wertvoller denn je.«
Ein Satz, der Hegel zugeschrieben wird, lautet: »Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.« Eine bittere Feststellung, die in uns eine spontane Reaktion der Ablehnung und Rebellion auslöst. Die Chronik der letzten Jahre, in denen mitten in Europa ein Krieg ausgebrochen ist, scheint Santayana und Hegel Recht zu geben: Der Mensch verfällt immer wieder in die gleichen Fehler. In der Tat wurde darauf hingewiesen, dass er als einziges Lebewesen dazu fähig ist: Kein anderes Lebewesen außer dem Menschen fällt ein zweites Mal in dasselbe Loch. Denn das Tier wird von seinem »unfehlbaren« Instinkt geleitet.
Damit wird automatisch eine weitere bittere Schlussfolgerung ausgelöst, wonach die Besonderheit des Menschen in seiner Fehlbarkeit, seiner Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit liegen würde. Wäre dies etwa dann seine »Überlegenheit«?
Die Aufmerksamkeit, man könnte auch sagen Hingabe, mit der sich die Menschen im Westen in den letzten Jahren der Tierwelt zugewandt haben, man denke nur an Haustiere, vor allem an Hunde und Katzen, scheint dieses strenge Urteil über die eigene Menschennatur zu unterstreichen, so als wäre der Mensch von seinen Mitmenschen enttäuscht und hätte sich deshalb anderen, sichereren, stabileren, unfehlbaren Lebewesen zugewandt. Tiere sind, was sie sind, nicht mehr und nicht weniger. Und es ist auch wahr, dass nur der Mensch enttäuschen kann, versagen kann, jene Verheißung verraten kann, die sich immer im Moment der Geburt oder der Begegnung ankündigt. Die Kategorie der »Überlegenheit« und »Größe«, die seit jeher auf den Menschen angewandt wird, sollte daher überprüft werden. Der Mensch versagt, wo das Tier nicht versagt.
Dieses Scheitern ist jedoch eng mit der Dimension verbunden, die dem Menschen, als geis-tigem Wesen, eigen ist und die den anderen Lebewesen fehlt: die Freiheit. Deshalb enttäuscht der Mensch, oder besser gesagt, er überrascht. Der Mensch ist nicht nur das, was er ist, er ist mehr, denn der Mensch lebt im Werden, er verändert sich ständig, auch wenn dies paradoxerweise auch in der Wiederholung der gleichen Fehler geschehen kann. Deshalb gibt es eine »Menschheitsgeschichte«, aber es kann keine vergleichbare Geschichte von Mineralien, Pflanzen oder Tieren geben. Die Geschichte ist die Dimension, die jeder einzelnen menschlichen Existenz eigen ist, auch wenn sie oft die Geschichte der unzähligen Fehler ist, die der Mensch immer wieder begeht. Deshalb gibt es, wie der Papst sagte, keine »kleinen« Geschichten. Jede menschliche Geschichte ist groß, eben weil sie menschlich ist, von uns Wesen, die mit dem dramatischen Geschenk der Freiheit ausgestattet sind. Vor allem ist der Mensch frei von jenem unfehlbaren Instinkt, der aber auch ein Zeichen für eine Notwendigkeit, ein Bedürfnis ist, das alle Verhaltensweisen der Tiere automatisch, fast »automatisiert« und mechanisch werden lässt, was schließlich wirklich zur Wiederholung wird. Tiere überraschen uns fast nie, die Menschen dagegen hören nie auf, zu überraschen. Und sie überraschen sich oft selbst. Sie bleiben sich selbst bis zum Ende ein Rätsel.
Aber wir fragen uns: Wenn all dies das Ergebnis des Zustandes der Instinktfreiheit ist, der den Menschen kennzeichnet, kann es dann sein, dass der »Preis« für dieses »Geschenk« zu hoch ist? Kriege, Gewalt, Machtkämpfe, Ungerechtigkeit, Diskriminierung… Wie viel kostet uns die Freiheit? Der Preis ist so hoch, dass die Menschen oft bereit sind, ihre Freiheit aufzugeben, für ein bisschen mehr Sicherheit und Seelenfrieden, und schon ist es geschehen: Wir delegieren alle Macht an jemanden, lassen ihn für alles sorgen, wir tun blindlings, was er will, nur um wieder in dem ruhigen, immer gleichen Mechanismus der Instinkte zu leben. Es mag das »panem et circenses« der Römer sein oder heute die unbegrenzte Verfügbarkeit von Vergnügungen und Annehmlichkeiten, die das Internet und die künstliche Intelligenz bieten, aber der Kern ist derselbe: Die Freiheit ist eine zu schwere Last, es ist besser, sie loszuwerden.
Einige rebellieren dagegen, weil wir ja nicht geboren wurden, »um wie Tiere zu leben«, aber dann stellt sich wieder das Problem: Wie können wir als Menschen frei von Instinkt leben und vermeiden, in dieselben Fehler zu verfallen, die wir immer gemacht haben? Das Erinnern würde helfen, aber wie kann man es wirklich aktiv, nützlich, fruchtbar machen?
Die Menschen haben dazu etwas erfunden, das heute sehr unpopulär ist: Institutionen. Allein das Wort irritiert, vor allem die jüngere Generation. Das Wort »Institution« klingt grau, anonym, taub und bürokratisch, es »riecht« nach Macht und wird daher letztlich als freiheitsfeindlich angesehen. Doch das ist nicht der Fall. Institutionen entstehen gerade deshalb, weil der Mensch erkannt hat, dass er, wenn er mit seiner Freiheit allein gelassen wird, nicht mit ihr umgehen kann und wieder seinen Instinkten zum Opfer fällt. Man sollte das Wort »Institution« mit dem Wort »Gemeinschaft« übersetzen, und die Dinge würden sich ändern. Mit anderen Worten, die Menschheit hat sich gesagt: Allein kommen wir nicht weiter, wir stürzen eher ab, doch wenn wir uns zusammentun, werden wir weniger Fehler machen, wir werden den Versuchungen besser widerstehen, wir werden uns mehr bemühen, das Richtige zu tun und nicht nur das Einfache. Aber wir brauchen den Austausch und den Trost der anderen, um unsere Einsamkeit zu durchbrechen, um die natürliche Tendenz zur Zerstreutheit und Vergesslichkeit zu überwinden.
Eine erste Institution, die diese »Mission« in ihrer konstitutiven DNA trägt, ist der Journalismus, der das Gewissen wach hält, oder es zumindest tun sollte, aber noch vor dem Journalismus fällt mir die Schule ein: Um die Erinnerung und das Gewicht der Erfahrung lebendig zu halten, haben sich die Menschen einen Ort mit seinen Räumen und Zeiten ausgedacht, der es den Generationen ermöglicht, aufeinanderzutreffen, damit Erwachsene und Jugendliche, während sie sich gegenseitig begleiten und die Vergangenheit mit Blick auf die Zukunft studieren, ihren Lebensweg gehen können und dabei versuchen, nicht immer wieder in dieselben Fehler zu verfallen. Heutzutage genießt die Bildungseinrichtung kein hohes Ansehen, noch weniger aber die »Institution« Familie, die noch vor der Schule dieselbe Aufgabe erfüllt.
Die Schönheit der menschlichen Institutionen wiederzuentdecken, sie von der dicken Staubschicht zu befreien, mit der wir sie bedeckt haben, ist ein Weg, als freie und zugleich weise Menschen zu leben. Denn wir wissen: wenn wir alleine sind, werden wir am Ende die Vergangenheit und die Folgen unserer Taten vergessen. Doch wenn wir einen Begleiter auf dem Weg haben, der zwangsläufig auch ein wenig unbequem ist, den wir aber »Lehrer« nennen können (und oft sind es eher die Kinder als die Eltern, die zu wahren Lehrern werden), dann kann die Vergangenheit wirklich vergangen sein und nicht wiederkehren. Und wir können uns öffnen, um die Zukunft anzunehmen und ihr ohne Angst ins Gesicht zu sehen.
(Orig. ital. in O.R. 28.9.2024)
Von Andrea Monda