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Die paradoxe und befreiende Liebe des Herzens Jesu

 Die paradoxe und befreiende Liebe des Herzens Jesu  TED-045
08. November 2024

»Im Jahr 1943, dem Jahr des Nordafrikafeldzuges und der endgültigen Katastrophe der italienischen Armee, veröffentlichte Pius XII. zwei Enzykliken mit den Titeln ›Der mystische Leib Christi‹ und ›Über das Studium der Heiligen Schrift‹. Sie müssen dem italienischen Volk als weit weg von seinen unmittelbaren Sorgen erschienen sein, doch diese Sorgen waren kurzlebig, während die Themen der beiden Enzykliken so lange Bestand haben werden, wie es Menschen gibt.«

Es ist 80 Jahre her, dass der englische Schriftsteller Graham Greene in einem Essay mit dem treffenden Titel »The Paradox of a Pope« über die Entscheidungen von Pius XII. nachdachte, aber die Situation hat sich nicht geändert. Für das Paradoxon des Papstes, nämlich das des Evangeliums, war und ist die Welt noch nicht bereit.

Vergleicht man die beiden Situationen, so kann man feststellen, dass wir uns heute wie damals in einer Zeit des Krieges, des Weltkrieges befinden, dass der Papst die Enzyklika Dilexit nos »über die menschliche und göttliche Liebe des Herzens Jesu Christi« veröffentlicht hat, und schließlich, dass auch dieser Text, wie die Texte von Papst Pacelli, weit weg von den unmittelbaren Sorgen der Menschen zu sein scheint.

Eine Bestätigung dieser Ferne ist die geringe Aufmerksamkeit, die die Medien der vierten Enzyklika von Papst Franziskus schenken, der im Schlusswort von Dilexit nos die vorangegangenen Enzykliken zitiert und betont: »Die Aussagen dieses Dokumentes lassen uns entdecken, dass das, was in den Sozialenzykliken Laudato si’ und Fratelli tutti geschrieben steht, unserer Begegnung mit der Liebe Jesu Christi nicht fremd ist. Denn, wenn wir aus dieser Liebe schöpfen, werden wir fähig, geschwisterliche Bande zu knüpfen, die Würde jedes Menschen anzuerkennen und zusammen für unser gemeinsames Haus Sorge zu tragen« (217). Es handelt sich also nicht um einen Text am Rande, »marginal«, sondern um einen Text, der an der Quelle, im Zentrum des Pontifikats von Jorge Bergoglio steht.

Der Papst stellt das Herz in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit, gerade weil es das Zentrum des Menschen ist: »Der Kern eines jeden Menschen, also sein Innerstes, ist nicht der Kern der Seele, sondern der ganzen Person in ihrer einzigartigen Identität, die aus Seele und Leib besteht. Alles ist im Herzen vereint« (21). Und: »Das Herz ist auch fähig, die eigene persönliche Geschichte zu einen und zu harmonisieren, die in tausend Teile zersplittert zu sein scheint, in der aber dennoch alles einen Sinn haben kann« (19). Heute scheint dieses Zentrum zersplittert, wie verflüchtigt: »Die flüssige Gesellschaft ist ein aktuelles Problem, doch die Abwertung des innersten Zentrums des Menschen – des Herzens – reicht viel weiter zurück» (10). Und weiter: »Das Anti-Herz ist eine Gesellschaft, die zunehmend von Narzissmus und Selbstbezogenheit beherrscht wird« (17). Schließlich: »Wenn man daher sieht, wie immer neue Kriege aufeinander folgen, mithilfe der Komplizenschaft, der Duldung oder der Gleichgültigkeit anderer Länder oder mit bloßen Machtkämpfen um Eigeninteressen, könnte man meinen, dass die Weltgemeinschaft ihr Herz verliert« (22). Es ist daher notwendig, genau dorthin zurückzugehen, zum Herzen, denn nur so können wir »das Band zurückspulen« und der verwundeten Welt die Möglichkeit eines Neuanfangs bieten.

Es ist jedoch wichtig, nicht der Versuchung zu erliegen, diesen Text in der verstaubten Schublade der »Andachtsformen« abzulegen: »Manchmal sind wir versucht, dieses Geheimnis der Liebe als eine bewundernswerte Tatsache der Vergangenheit zu betrachten, als eine schöne Spiritualität aus anderen Zeiten« (149), aber »das Leiden Christi ist nicht bloß eine Tatsache der Vergangenheit: durch den Glauben können wir daran teilnehmen. Die Selbsthingabe Christi am Kreuz zu meditieren, ist für die Frömmigkeit der Gläubigen viel mehr als bloßes Erinnern« (154). Die Enzyklika des Papstes blickt nicht auf die Vergangenheit, auf »momentane Sorgen«, sondern auf die Zukunft, sie berührt keine antiquierten Themen oder Praktiken, sondern befreit uns gerade von den leeren Hülsen der Vergangenheit. Denn, so schließt der Papst, die Rückkehr zur Betrachtung der Liebe, die aus dem Herzen Christi fließt, »hat auch die Kirche nötig, damit nicht an die Stelle der Liebe Christi vergängliche Strukturen, Zwangsvorstellungen vergangener Zeiten, Anbetung der eigenen Gesinnung oder Fanatismus aller Art treten, die schließlich den Platz der bedingungslosen Liebe Gottes einnehmen, die befreit, belebt, das Herz erfreut und die Gemeinschaften nährt. Aus der Seitenwunde Christi fließt weiterhin jener Strom, der nie versiegt, der nicht vergeht, der sich immer neu denen darbietet, die lieben wollen. Nur seine Liebe wird eine neue Menschheit ermöglichen« (219).

Von Andrea Monda