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Staunende Pilger

 Staunende Pilger  TED-047
22. November 2024

Im Mittelalter gab es Handbücher, mit deren Hilfe die Pilger erfahren konnten, was sie sehen würden, wo ein Besuch sich lohnte und wie sie in den verschiedenen Kirche Ablässe erlangen konnten. Rom zu betreten, war immer eine aufregende Erfahrung, die sie mit der Sakralität der heiligen Stätten und ihrer Reliquien konfrontierte, sie aber angesichts des direkten Kontakts mit einer monumentalen, geheimnisvollen und oft unverständlichen Vergangenheit auch mit Ehrfurcht erfüllte.

Die Pilger, die von Norden her nach Rom kamen, über die Via Francigena, erblickten plötzlich von oben her die ganze Stadt, vom Monte Mario aus, dessen mittelalterliche Ortsbezeichnung von »Mons Gaudii«, Berg der Freude, hergeleitet wird, als Erinnerung daran, dass ihr Herz vor Freude hüpfte und ihnen vor Aufregung der Atem stockte. Sie waren am Ziel angekommen, konnten die Petersbasilika aus nächster Nähe sehen, das gewundene Band des Tibers sowie die Dächer und Kuppeln der anderen heiligen Stätten, die sie erwarteten.

Es waren keine unbedarften Reisenden; fast immer waren sie ausgerüstet mit soliden »Touristenführern«, die ihre Schritte lenken würden. Die Reiseliteratur ist keine neue Gattung. Was die Spätantike betrifft, so gab es bereits seit dem 4. Jahrhundert Itinerare der einzelnen Orte, die nicht sehr genau waren, sondern vielmehr dazu dienen sollten, die Reiseetappen entlang der Straßen aufzuzeigen. Darunter war das sogenannte »Itinerarium Burdigalense« oder »Itinerarium Hierosolymitanum«, das älteste christliche Itinerar, verfasst 333/334 von einem Unbekannten während seiner Reise von Burdigala, dem heutigen Bordeaux, nach Jerusalem, der Zieletappe, um das Heilige Grab zu verehren. Rom erscheint noch als ein Ort von vielen, als Etappe eines Weges in das Heilige Land. Mit dem Fall von Jerusalem im Jahr 1187 und schließlich der Belagerung von Akkon im Jahr 1291, die das Ende der Kreuzzüge bezeichnete, wurde Rom allmählich zum wichtigsten Anziehungspunkt und bekam dann durch die Einführung des Heiligen Jahres eine Sonderstellung.

Unendliche viele Kirchen

Das Itinerar des Abtes Nikulás von Munkathvera aus der Zeit zwischen 1151 und 1154 ist eines der berühmtesten und ältesten Itinerare. Auch er steigt vom Monte Mario nach Rom hinab und zählt die wichtigsten Orte, die fünf Bischofssitze, auf: Einer ist bei der Kirche »San Giovanni Battista«, wo sich der Papstsitz befindet, der zweite bei der Kirche »Santa Maria«, wo der Papst die Weihnachts- und die Ostermesse feiert; im Westen die Kirche »San Paolo«, wo sich der Ort namens »Catacumbas« befindet; außerdem gibt es den Markt von »San Pietro Apostolo«, der »sehr weit und lang« war, und dann die ehrwürdige Kirche »San Pietro«, sehr groß und berühmt: »Hier gibt es die volle Befreiung von den Sünden für die Menschen aus aller Welt…«, und dann erwähnt er »den Sarkophag« des Apostels unter dem Altar. Er sagt, dass dieser hier auch im Gefängnis war und sich hier das Kreuz seines Martyriums befindet. Er fügt hinzu, dass im Altar die Hälfte der Gebeine von Petrus und Paulus aufbewahrt würden, während die andere Hälfte sich in der Kirche des Paulus befinde. Außerdem erwähnt Nikulás »Sant’Agnese«, das Pantheon und weitere Gotteshäuser und schließt: »Niemand ist so gelehrt, dass er mit Sicherheit alle Kirchen Roms kennt.«

Mirabilia

Ab dem 12. Jahrhundert tauchen echte Beschreibungen von Rom auf, die Mirabilia Urbis Romae: »Die Sehenswürdigkeiten von Rom«. Manchmal werden Orte erwähnt, die nicht verstanden und letztendlich auf naive Weise beschrieben werden, von unglaubwürdigen Legenden und Phantasiegeschichten immer mehr entstellt. Grundlegend bleibt in den Augen der Pilger der faszinierendste und geheimnisvollste Aspekt dieser so komplexen Stadt: die Gegenüberstellung zwischen der heidnischen und der christlichen Stadt. Eine Vergangenheit, die monumentale Spuren hinterlassen hat, deren ursprüngliche Funktion unverständlich geworden ist. Die Bautechniken mit großen rechteckigen Travertin- und Marmorblöcken werden mit Staunen, die steinernen Schmuckelemente mit Faszination betrachtet und um die Statuen zu erklären, greift man auf eine fantastische und oft dämonische Welt zurück.

Die älteste Version der Mirabilia wird einem Kanoniker des Kapitels von St. Peter, Benedetto, zugeschrieben, zwischen 1140 und 1143 datiert, später in das Liber Pontificalis eingefügt. Dieses Werk entsteht nicht als Pilgerführer, sondern aus der Notwendigkeit heraus, das bauliche Erbe der Stadt Rom für die päpstlichen Bestandslisten zu registrieren und es vor Plünderungen zu schützen. Denn in diesen ersten Büchlein sind nicht nur die Pilgerziele verzeichnet, sondern die interessanten Punkte allgemein: von den römischen Stadtmauern und den Befestigungstürmen und Toren, den Triumphbögen, den Hügeln, den Thermen, den antiken Bauwerken, den Orten für Spiele und Schauspiele, den mit dem Martyrium der Heiligen verbunden Orten, bis hin zu Brücken, Friedhöfen und schließlich historischen Erzählungen und einem Itinerar vom Vatikan nach Trastevere.

Das innerstädtische Itinerar

Vom Vatikan ging man an der Engelsburg vorbei zum Campo Marzio, um zum Kapitol hinaufzusteigen, dann wieder hinunter zum Forum Romanum und unter dem Titusbogen hindurch. Vom Palatin aus sah man riesenhaft das Kolosseum vor sich, dann folgte der Circus Maximus, der Coelius und der Lateran. Von hier aus ging es zum Esquilin, zum Viminal, zum Quirinal, und dann schloss sich der Kreis, um wieder zum Circus Maximus und zur Engelsburg zurückzukehren. In Trastevere angekommen, besuchte man die Tiberinsel.

Die Asche von Julius Caesar

Außer den berühmten Reliquien der Basiliken gab es noch andere Dinge, die die Pilger anzogen. An einigen Orten gab – und gibt – es mit dem Leben der Apostel, Heiligen und Märtyrer verbundene Zeugnisse. Nicht nur über Christen, sondern auch über andere berühmte Persönlichkeiten der Antike fantasierte man sich Geschichten zusammen, zum Beispiel im Fall des Obelisken, »aguglia« genannt, auf dem Petersplatz, in dessen vergoldeter Kugel sich angeblich die Asche von Julius Caesar befinden sollte. Ausschlaggebend ist dabei wie immer der Gegensatz zwischen dem heidnischen und dem christlichen Rom, wobei auch eine Moral aus der Geschichte gezogen wurde: Jene antike vergoldete Kugel stand für eine vergängliche Herrlichkeit, die längst untergegangen war und nicht mehr existierte. Genau hier erstrahlte stattdessen jetzt die immerwährende Herrlichkeit eines Märtyrers, eines einfachen Mannes, den Gott als Fundament seiner Kirche auserwählt hatte. Man meinte, die »Meta de Sancto Petro« sei ursprünglich der Ort des Romulus-Grabes gewesen. Und in diesem Spiel symbolischer Überlagerungen lohnt es sich, auch einen nichtrömischen Ort zu erwähnen, Konstantinopel, denn man meinte, dass sich im Globus, den die dortige Konstantins-Statue in der rechten Hand hält, die Reliquien des Kreuzes Christi befinden würden.

Der vergoldete Pinienzapfen

Der große Pinienzapfen aus Bronze, der sich in dem nach ihm benannten Hof der Vatikanischen Museen befindet, gehörte ursprünglich zu einem Brunnen in den Agrippa-Thermen auf dem Marsfeld. Eine der verschiedenen Versionen der mittelalterlichen Legende besagt, dass er als »Pfropfen« des »oculus« (Auge) des Pantheons gedient habe, und als der heidnische Tempel in eine Kirche umgewandelt wurde, sei der Teufel, der sich darin eingenistet hatte, weggeflogen und habe den Pinienzapfen mitgenommen und ihn im Hof von Sankt Peter abgelegt, wobei das Loch in der Mitte der Kuppel offengeblieben sei. Eine andere Version dagegen besagt, dass der Pinienzapfen die Asche des Kaisers Hadrian enthielt und sich oben auf dessen Mausoleum, also der Engelsburg, befand.

Monte Cavallo

Die Skulpturengruppe der beiden Dioskuren Castor und Pollux, die ihre Pferde am Zaum halten, steht seit der Antike auf dem Quirinalshügel, der im Mittelalter aus eben diesem Grund »Monte Cavallo« (Pferdeberg) genannt wurde. Man nimmt an, dass der ursprüngliche Standort in den nahegelegenen Konstantins-Thermen war. Interesse erweckten die auf der Basis eingravierten Namen, »Opus Phidiae« und »Opus Praxitelis«, also das Werk des Phidias und des Praxiteles, die unterschiedlich ausgelegt wurden. Im Mittelalter berichteten die Mirabilia, dass es sich um zwei Philosophen handle, Überbringer der »nackten« Wahrheit, »et sì como erano nudi, così tutta la scientia de lo munno era aperta et nuda ad la mente loro« (und ebenso wie sie nackt waren, lag die ganze Wissenschaft der Welt offen und nackt vor ihnen); andere Versionen halten sie für Seher. Petrarca, der mehrmals in Rom war, erkannte sie schließlich als Werke der beiden berühmten griechischen Bildhauer, indem er auf die Naturalis Historia des Plinius Bezug nahm.

»Ara Coeli« und eine Verheißung

Die Basilika steht hoch oben am Ende einer steilen Treppe zwischen dem Kapitolsplatz und dem »Altar des Vaterlandes«. Es ist der höchste Punkt des Kapitolshügels, ein besonders heiliger Ort des antiken Roms. Ihr Name, dessen lateinische Bezeichnung bis heute benutzt wird, bedeutet »Himmelsaltar«. Es war die »arx«, die Burg, wahrscheinlich der Ort des »auguraculum«, die eingefriedete Stelle, der günstigste Punkt, von dem aus die Auguren die Auspizien vornahmen, indem sie den Vogelflug beobachteten. Unter dem kleinen Rundtempel der heiligen Helena befindet sich ein Kosmaten-Altar aus dem 12. Jahrhundert, an dem sich die Reliefs von Augustus und der Jungfrau Maria mit dem Kind befinden. Das erinnert an eine Legende, die wieder die heidnische und die christliche Welt miteinander vermischt, so als wollte man Wurzeln der neuen Religion in einer Zeit finden, die sich dessen noch nicht bewusst war: Ebenfalls den Mirabilia zufolge soll Kaiser Augustus hier eine Vision gehabt und am Himmel eine auf einem Altar sitzende Frau mit einem Kind auf dem Schoß gesehen haben. Und eine Sibylle soll gesagt haben: »Haec est ara filii Dei!« – »Das ist der Altar des Gottessohnes!« 

Der Kreuzweg im Kolosseum

Das riesige Bauwerk mit seinem enormen, massiven Umfang löste bei den Pilgern sicher Ehrfurcht und Staunen aus. Sie verstanden seine Funktion nicht, und es wurden sogar Hypothesen aufgestellt, dass es sich um einen Tempel gehandelt habe. Der Autor des Libro imperiale aus dem 14. Jahrhundert liefert eine Beschreibung. Ein Bauwerk »von erhabener Größe und Höhe«, große Säulen, sieben Mauern und unzählige Tore. Im Mittelpunkt, dort wo die Arena ist, stand eine riesige Säule, auf der sich die vergoldete Statue des Jupiter erhob. Man habe sie schon von Weitem gesehen, und alle seien bei ihrem Anblick niedergekniet. Seine wahre Funktion als Bauwerk für Gladiatorenspiele und somit als Ort des Martyriums wurde erst später verstanden und florierte im Jahr 1750, als Benedikt XIV. am 27. Dezember 1750 zum Gedenken an dieses Heilige Jahr den Kreuzweg im Kolosseum einführte.

Ein immer reicheres Itinerar

Mit der Einführung des Heiligen Jahres begann man besonders seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, neue Kirchen in die Ablasslisten aufzunehmen. Nach dem Petersdom und der Basilika St. Paul vor den Mauern im Jahr 1300 wurden 1350 die Lateranbasilika und 1390 Santa Maria Maggiore aufgenommen. In einer Reihe von Bullen, die im März 1400 veröffentlicht wurden, wurde der zum Erwerb des Ablasses notwendige Besuch auf die Basiliken St. Laurentius vor den Mauern, Santa Maria in Trastevere und Santa Maria della Rotonda, also das Pantheon, ausgeweitet.

Große Verbreitung

Mit dem Aufkommen des Buchdrucks nimmt die Zahl der Werke und ihre Verbreitung – Inkunabeln, Ablässe und Reisetagebücher – immer mehr zu. Die Beschreibungen der Baudenkmäler werden zu echten Reiseführern, besonders Ende des 15. Jahrhunderts anlässlich des Heiligen Jahres 1475. Es erscheinen die Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae, die sich nicht mit der Geschichte von Rom aufhalten, sondern gezielt die sieben Hauptkirchen und ihre Reliquien beschreiben, mit den Ablässen, die man in einer jeden von ihnen erwerben konnte.

Diese Werke werden immer reicher bebildert, wobei man sich zu Beginn auf Abbildungen der Titelheiligen der verschiedenen Kirchen beschränkt und dann immer mehr auch Ansichten und Teilansichten der Stadt zeigt, wie die berühmten Werke von Giuseppe Vasi, Vedutenstecher des 18. Jahrhunderts, Verfasser der Reihe Magnificenze di Roma antica e moderna.

Die sieben Kirchen

Ein besonderes Glaubensitinerar war die Sieben-Kirchen-Wallfahrt, die seit dem
7. Jahrhundert durchgeführt wurde: ein Weg von etwa 20 Kilometern, der in zwei Tagen absolviert wurde und besonders in der Osterzeit von großer Bedeutung war. Er führte zu den »Basilicae maiores« und zu drei der »Basilicae minores«: Petersbasilika, St. Paul, Santa Maria Maggiore, St. Johannes im Lateran, Santa Croce in Gerusalemme, St. Laurentius, St. Sebastian. Entlang des Weges traf man auf viele Orte der Erinnerung an die christliche Antike und insbesondere die Katakomben von Comodilla, Domitilla und Calixtus.

Der heilige Philipp Neri erneuerte im Jahr 1552 diese alte Wallfahrtstradition, die sich spontan entwickelte, zuerst mit ein paar Freunden und den Jugendlichen des Oratoriums, dann mit einer wahren Menschenmenge. Man begann bei der Kirche San Girolamo, um zur Petersbasilika zu gelangen und dort die Nacht zu verbringen. Am nächsten Tag machte man Station in St. Paul vor dem Mauern, in der Basilika Santa Croce in Gerusalemme und schließlich in der Basilika
St. Sebastian, wo in den Katakomben zu Pfingsten des Jahres 1544 sein Herz von »einer Ausgießung des Heiligen Geistes« getroffen wurde, wie der heilige Philipp selbst berichtete. Die Siebenzahl betrifft nicht nur die zu besuchenden Kirchen, sondern verleiht letztlich jedem Augenblick und jedem Ort dieser Wallfahrt geistliche Bedeutung: Es werden die sieben Bußpsalmen gebetet, um die Vergebung der sieben Todsünden und die sieben Tugenden zu erbitten, während man über die sieben wichtigsten Stationen Jesu während seines Leidens, das siebenmalige Blutvergießen Christi, die sieben Worte Christi am Kreuz, die sieben Gaben des Heiligen Geistes, die sieben Sakramente und die sieben Werke der Barmherzigkeit nachdenkt. Die Praxis bekam innerhalb kurzer Zeit großen Zulauf, und der Pilgerstrom hält bis heute an.

(Orig. ital. in O.R. 30.10.2024)

Von Maria Milvia Morciano