Es fehlte nur der zündende Funke

 Es fehlte nur der zündende Funke  TED-019
10. Mai 2024

»Jubeljahr« war für den mittelalterlichen Menschen gleichbedeutend mit »Ablass«, und bevor Papst Bonifaz VIII. – im Jahr 1300 – der Welt die große Vergebung verkündigte, hatte die mittelalterliche Christenheit nie ein Jubeljahr in dem Sinne gefeiert, wie wir das heute verstehen. Der Zisterzienser Alberico delle Tre Fontane schreibt zwar in seiner Chronik: »Es heißt, dass dieses Jahr [1208] als 50. Jubiläum oder Jubeljahr der Vergebung gefeiert wird.« Dies bezieht sich aller Wahrscheinlichkeit nach aber auf den Ablass, der damals von Innozenz III. allen gewährt wurde, die an der Prozession mit dem Schweißtuch der Veronika teilnahmen. Denn hätte es sich um ein echtes Jubeljahr gehandelt, hätte es in den Chroniken und Dokumenten ganz andere Spuren hinterlassen, und es ließe sich auch nicht erklären, aus welchem Grund man es im Jahr 1208 hätte ausrufen sollen, das kein besonderes Ereignis markierte.

Es war also Bonifaz VIII., der das christliche Jubeljahr ins Leben rief. Ideengeber waren jedoch weder der Papst noch seine engen Mitarbeiter. Denn dank einer außerordentlich wichtigen Quelle, dem De centesimo seu Jubileo anno liber (Buch über das hundertste Jahr oder Jubeljahr), einem Werk von Jacopo Stefaneschi, Kardinaldiakon von San Giorgio al Velabro (es gibt davon ein wunderschönes Exemplar im Cod. G. 3 des »Archivio di San Pietro«, das in der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek aufbewahrt wird), kennen wir die Vorgeschichte der Entscheidung, die Papst Bonifaz VIII. aus der Familie Caetani dazu brachte, der Welt die »vollkommene« Verzeihung der Sünden zu gewähren.

Stefaneschi berichtet: »Es ging ein Gerücht um, das das Heilige Jahr betraf, dessen Beginn mit der Zahl 1300 unmittelbar bevorstand. […] Es enthielt eine Verheißung: Wer sich nach Rom in die Basilika des heiligen Apostelfürsten Petrus begeben würde, sollte die vollkommene Verzeihung aller Sünden erhalten.« Es kam also ein Gerücht auf, das beim Volk in Umlauf war: Der Abschluss des Jahrhunderts brachte die Verheißung eines »vollkommenen« Ablasses mit sich. Stefaneschi hilft uns zu erkennen, welche Folgen diese Überzeugung hatte, auch wenn nicht einmal er den unmittelbaren Grund dafür kennt. Denn die eigentliche nahe und ferne Ursache war die eschatologische Erwartung, von der die Christenheit das ganze Mittelalter hindurch geprägt war, die aber im 13. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte.

Die Erwartung war bereits vorhanden, und sie war angesichts des nahen Jahrhundertendes sehr lebhaft. Es fehlte nur der Funke, der das Feuer entfachen sollte. So berichtet das genannte Buch über das Jubeljahr: »Und das ist das Wunderbare: Fast den ganzen ersten Januar blieb das Geheimnis der neuen Vergebung verborgen; aber bei Sonnenuntergang, gegen Abend, fast bis in die tiefe Stille der Mitternacht hinein, erfuhren die Römer davon: Und siehe, sie laufen in Scharen zur Basilika des heiligen Petrus. Sie drängen sich scharenweise um den Altar und versperren einander den Weg, so dass man sich kaum nähern konnte, als meinten sie, dass mit jenem Tag, der sich dem Ende zuneigte, auch die Gewährung der Gnade vorbei wäre, zumindest der größeren Gnade. Und wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob sie angespornt durch irgendeine in der Basilika gehaltene Morgenpredigt über das hundertste Jahr oder Jubeljahr herbeigelaufen kamen oder aus einer spontanen Entscheidung heraus oder – was ich für das Glaubwürdigste halte – angezogen durch ein himmlisches Zeichen, das an vergangene Jubeljahrfeiern erinnern und zukünftige ankündigen sollte.«

Die von Stefaneschi aufgestellte Hypothese, dass irgendein Prediger über den Ablass gesprochen habe, scheint natürlich plausibel, trotzdem weiß ich nicht, ob man dabei an eine »Morgenpredigt in der Basilika« denken sollte oder nicht vielmehr an irgendeinen Wanderprediger, der in Rom umherzog, denn sonst ließe sich nicht erklären, wieso das Gerücht, wenn der Aufruf am Morgen stattgefunden hätte, erst bei Sonnenuntergang begonnen hätte, sich zu verbreiten. Und man weiß ja, dass bestimmte Gerüchte sich unter dem Volk ebenso rasch verbreiten können wie der Funkenflug über ein Stoppelfeld: »So fing es an, dass der Glaube von Tag zu Tag zunahm, ebenso wie der Besuch durch Einheimische und Fremde.« Nicht von oben, sondern von unten nahm das Gerücht also Gestalt an. Und einmal in die Welt gesetzt, konnte nichts und niemand es mehr aufhalten.

Bonifaz VIII. wollte jedoch nicht nachgeben. Hatte er sich etwa nicht fest entschlossen gegen die Entscheidung Coelestins V. gestellt, als dieser sich wenige Jahre zuvor als über die Maßen freigebig gezeigt und den vollkommenen Ablass allen gewährt hatte, die an einem bestimmten Tag – Reue und Beichte vorausgesetzt – nach L’Aquila zur Basilika »Santa Maria di Collemaggio« pilgern würden? Aus diesem Grund, so berichtet unsere Quelle weiter, »ordnete der gute Vater an, nach Bestätigungen in den alten Büchern zu suchen. Aus diesen kam jedoch nichts von dem Gesuchten ans Tageslicht: vielleicht weil die Vorväter nachlässig waren, wenn es uns gestattet sein sollte, ihnen etwas Schlechtes nachzusagen, oder weil jene Bücher infolge von Spaltungen und Kriegen, von denen Rom sehr oft heimgesucht wurde, verlorengegangen waren – und das ist ein Grund zur Trauer und nicht zur Bewunderung – oder weil es eher der Fantasie als der Wahrheit entsprungen war.«

Sorgfältige Nachforschungen also, bei denen jedoch nichts herauskam. Und es kam nichts heraus, weil nichts dagewesen war, was den Papst im Übrigen vor ein Problem stellte, weil es keine Präzedenzfälle gab, auf die er sich stützen konnte, außer der Entscheidung seines unmittelbaren Vorgängers, die er gewiss nicht heranziehen konnte und wollte. Mittlerweile griff das Gerücht immer mehr um sich und teilte sich in verschiedene Strömungen auf: »Einige von ihnen behaupteten, dass am ersten Tag des Jahrhunderts der Makel jeder Schuld ausgelöscht werde, während andere meinten, den hundertjährigen Ablass zu gewinnen. Und so blieb ihnen für etwa zwei Monate die eine und die andere Hoffnung zusammen mit dem Zweifel. Viele strömten zahlreich herbei, und in größeren Scharen als sonst an dem Tag, an dem das verehrungswürdige Antlitz, das im Volksmund als Schweißtuch oder Veronica bezeichnet wird, der ganzen Welt gezeigt wurde.«

Am Sonntag nach der Oktav der Erscheinung des Herrn, der in jenem Jahr auf den
17. Januar fiel, war die Menge aufgrund des vorgesehenen Zeigens der Veronica besonders groß. Schließlich tauchte ein Zeuge auf, der angeblich schon 107 Jahre alt war. Zum Papst gebracht erklärte er, er könne sich noch an den letzten Jahrhundertwechsel erinnern, zu dem sein Vater nach Rom gepilgert sei, um die Vergebung zu erlangen, und seinem Sohn dann geraten habe, »wenn er bis zur nächsten Jahrhundertwende leben würde, was er nicht für möglich hielt«, selbst auch nach Rom zu pilgern. »Wir haben ihn befragt«, versichert Stefaneschi, »und er hat uns diese Dinge berichtet.«

Daraufhin bat Bonifaz VIII. »das Heilige Kollegium der Väter um seine Meinung bezüglich der neuen Angelegenheit des hundertsten Jahres, die noch nicht endgültig ge-prüft worden war«. Der Papst war alles andere als unbedarft und wusste sehr wohl, dass er sich in Neuland vorwagen musste. Zu einem Ja oder einem Nein konnte man in dieser heik-len Angelegenheit im Übrigen nicht ohne vorherige Beratung gelangen, und so »wurde in der Frage, durch die Verdienste der Apos-tel, positiv beschieden«. Man kam also zu der Entscheidung, das Jubeljahr auszurufen, die mit dem Schreiben Antiquorum habet fida relatio am 22. Februar 1300 öffentlich gemacht wurde. Das Datum, Fest der Kathedra Petri, war natürlich nicht zufällig gewählt, da der Papst »in der Fülle der apostolischen Autorität« (plenitudo potestatis), so heißt es in dem Schreiben, »nicht nur die volle und überreiche, sondern die vollkommene Vergebung aller Sünden« gewährte.

Unter dem Druck der Öffentlichkeit und nach nicht wenigen anfänglichen Bedenken verkündigte Bonifaz VIII. also den außerordentlichen vollkommenen Ablass, den er großherzig gewährte. Jener Tag wurde daher mit besonderer feierlicher Pracht begangen: »Nachdem der Ambo mit goldbestickten Seidentüchern umhüllt worden war, begab sich der Bischof von Rom mit den Vätern dort hinauf, hielt eine Predigt an das Volk und verlas am Ende das Schreiben.« Die Bitte des Volkes erfüllend, zeigte er sich so der Welt in seiner »plenitudo potestatis« als »magnanimus pontifex«, einziger Inhaber jener Schlüssel, die allein den Schrein öffnen konnten, der den Schatz der Kirche enthielt.

Seine Entscheidung sollte auf diese Weise die Fülle seiner Macht, die charismatische Kraft, die der hierarchischen Kirche innewohnt, zum Ausdruck bringen: eine Botschaft, die sofort verstanden wurde. Der italienische Mediävist Arsenio Frugoni bemerkt dazu: »Gegen die häretischen Strömungen, die die Notwendigkeit der Vermittlung der Kirche für das Heil geleugnet hatten, stellte er seine Verheißung der Vergebung, die der überwältigenden Heilssehnsucht der Gläubigen entsprach. Die Vorbehalte hinsichtlich der tatsächlichen Vollkommenheit des Ablasses, die die Bettelorden sofort lautstark zum Ausdruck brachten, sollten nicht so sehr durch Erklärungen der Theologen als vielmehr durch den Strom der Pilger entkräftet werden, die wegen jenes wunderbaren Geschenks im Papst den Stellvertreter Gottes erkannten.«

Es war jedoch ein kurzlebiger Triumph. Zwei Jahre später sollte er sein hierokratisches Ideal in dem Schreiben Unam sanctam erneut bekräftigen, in dem er erklärte: »Beide also sind in der Gewalt der Kirche, nämlich das geistliche Schwert und das materielle. Jedoch ist dieses für die Kirche, jenes aber von der Kirche zu handhaben. Jenes (in der Hand) des Priesters, dieses in der Hand der Könige und Soldaten, aber auf die Zustimmung und Duldung des Priesters hin. Es gehört sich aber, dass ein Schwert unter dem anderen ist und die zeitliche Autorität sich der geistlichen Gewalt unterwirft.« Auf die Auflösung des Reiches war jedoch die Festigung der Nationalmächte gefolgt, und am Horizont zeichnete sich bereits eine laikale Auffassung von Politik und Staat ab.

So stellte das Jubeljahr 1300 einen Höhepunkt des Pontifikats von Bonifaz VIII. dar, und gewiss blieb im Herzen der Zeugen der große Pilgerstrom lebendig, der nach Rom, das langersehnte Ziel, zog und der in der Berührung mit der Ewigen Stadt, mit ihren Kirchen, ihren Monumenten, mit ihren stolzen Ruinen die Spur eines jahrhundertealten grandiosen Gedächtnisses wahrnahm, als deren Teil er sich fühlte, wenngleich nur für einen Augenblick. Es war also, wie Arsenio Frugoni schrieb, »das letzte Mal, dass sich die Größe des mittelalterlichen Papsttums zeigte«.

(Orig. ital. in O.R. 25.4.2024)

Von Erzbischof Felice Accrocca