Rosch ha-Schana, die Feier zum Beginn eines neuen Jahres im jüdischen Kalender, enthält eine universale Botschaft. Der Talmud erklärt, dass Gott jedes Jahr an diesem Tag alle Geschöpfe richtet, da die Welt an Rosch ha-Schana erschaffen wurde. Die himmlischen Bücher werden an diesem Tag geöffnet und offenbaren die guten Taten und die Sünden jedes Einzelnen (b. Rosch ha-Schana 16b).
Gottes Urteil
über alle Menschen
Die Menschen könnten sich fragen, wie sie die mögliche Strafe für ihre Vergehen
mildern können. Im Jerusalemer Talmud
(y. Makkot 2,6-31d) wird darauf eine einzigartige Antwort gegeben: Die Weisheit wurde gefragt: Welche Strafe erhält der Sünder?
Sie antwortete: Unglück verfolgt die Sünder (Spr 13,21). Die Prophetie wurde gefragt, und sie antwortete: Der Mensch, der sündigt, nur er soll sterben (Ez 18,4). Gott wurde gefragt und antwortete: Lasst den Sünder Buße tun, und sie wird ihm vergeben werden. So steht es geschrieben (Ps 25,8): »Darum weist er [Gott] Sünder auf den rechten Weg«, der der Weg der Buße ist.
Beruria, die Ehefrau von Rabbi Meir, hob in einem Gespräch mit ihrem Mann hervor, dass Gott nicht will, dass die Sünder verschwinden, sondern dass die Sünden verschwinden. Das wird bekräftigt von dem Vers aus Psalm 104,35, in dem es heißt: »Die Sünder sollen von der Erde verschwinden und Frevler sollen nicht mehr da sein.« Das bedeutet nicht, dass die Frevler sterben werden, sondern vielmehr, dass sie aufhören werden, Böses zu tun, und nicht länger als Sünder betrachtet werden (Midrasch Tehillim 104).
Der Akt der Reue für die eigenen Vergehen und eine tiefe Veränderung der Haltung gegenüber dem Leben ist auf Hebräisch als »Teschuwa« bekannt. Dieses Wort kommt aus der Wurzel »schuw«, die »umkehren« bedeutet. Dieses Konzept, umzukehren zu Gott und den Weg der Gerechtigkeit anstelle von Vergehen zu wählen, wird in den Worten der Propheten häufig erwähnt (Jes 44,22; Jer 3,12-14; 4,1; Hos 14,2 etc.)
»Teschuwa« ist das, was Gott von den Menschen erwartet, der in der Zeit zwischen Rosch ha-Schana und Jom Kippur (dem jüdischen Versöhnungstag) das göttliche Urteil über alle Menschen, Nationen und Völker spricht. Die Weisen glauben jedoch, dass zu jedem Tag im Leben eines Menschen die
Praxis des »Teschuwa« gehören sollte (Avot
deRabbi Natan, Nuscha B, 29).
Unsere derzeitige Wirklichkeit verlangt nach einer Rückkehr der Menschheit zur Vernunft. Die zahllosen Todesopfer durch Gewalt überall auf dem Globus und die rücksichtslose Manipulation enormer technologischer Macht erfordern dringend einen kollektiven Einsatz für das Leben und die Bewahrung von Gottes Schöpfung. Wir sind nicht die Eigentümer der Welt.
Hoffnung
und Sehnsucht
Im talmudischen Traktat über die Segenssprüche (b. Berachot 35a) denken die Weisen über den scheinbaren Widerspruch zwischen den Versen »Dem Herrn gehört die Erde und was sie erfüllt« (Ps 24,1) und »Der Himmel ist Himmel des Herrn, die Erde aber gab er den Menschen« (Ps 115,16) nach. Wenn alle Früchte der Erde dem Herrn gehören, wie können die Menschen sie nutzen? Und wie kam es, dass die Menschen die Erde besitzen? Rabbi Levi hat erklärt, dass alles Gott gehört und dass es erst zum Besitz der Menschen wird und der Verzehr gestattet ist, nachdem die Frucht gesegnet wurde. Nur indem wir den Schöpfer anerkennen, können wir das, was er für uns geschaffen hat, in rechter Weise nutzen.
Die Zukunft der Menschheit hängt davon ab, ob wir das Gleichgewicht zwischen der Vollmacht, die Gott den Menschen geschenkt hat, und ihrem Bewusstsein vom Schöpfer halten. Das Buch der Klagelieder, das die Überlieferung dem Propheten Jeremia zuschreibt, enthält Klagen, die nach der Zerstörung von Jerusalem und seinem Tempel geschrieben wurde. In Klagelieder 5,21 heißt es: »Lass du, Herr, uns zurückkehren zu dir, dann kehren wir um! Erneuere unsere Tage wie in der Urzeit.« Die heutige Menschheit muss eine solche Umkehr vollziehen, bevor zukünftige Zerstörungen stattfinden. Wir müssen das Paradigma, das sich um Macht, Besitz und unmittelbare Befriedigung dreht, statt sich auf die Umkehr zu Gott auszurichten, verändern.
Die Idee der Umkehr ist auch in Jesu Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) zu sehen, wo der missratene Sohn als ver-änderter Mensch zurückkehrt, ähnlich den Worten, die man in Jalkut Schimoni, Tehillim 855, zu Psalm 102,9 findet.
Die Bibel stellt die Menschheit zwischen zwei Polen dar: dem Garten Eden und einer friedlichen Welt, die durch das Handeln aller Menschen erreichbar ist. Die gewünschte Welt kann erlangt werden durch die Umkehr zu Gott, durch »Teschuwa«: die Hoffnung und die Sehnsucht, die vom jüdischen Volk in jedem Jahr an Rosch ha-Schana erneuert werden.
Von Abraham Skorka,
Georgetown University, Washington D.C.