Herr Kardinal,
liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!
Ihr Treffen ist von besonderem Interesse für die Kirche, die der heilige Paul VI. als »erfahren in den Fragen, die den Menschen betreffen« (Ansprache an die UNO, 1) bezeichnete. Das sind schöne, anspruchsvolle Worte, die einen beständigen Einsatz erfordern, damit sie in unserer Bildungsarbeit umgesetzt werden können.
In diesem Zusammenhang erinnere ich an den Film »Der Club der toten Dichter«. Darin wird von der Ankunft eines Lehrers an einem renommierten College erzählt, der eine sehr originelle Methode anwendet. Und dieser Literaturprofessor beginn seine erste Lektion mit einer »Überraschung«: Er fordert die Studenten auf, auf die Bänke zu steigen und die Klasse aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Diese Episode offenbart, was Bildung sein sollte: nicht nur die Weitergabe von Inhalten – das ist nur ein Aspekt –, sondern Ver-änderung des Lebens. Nicht nur das Wiederholen von Formeln – wie die Papageien –, sondern ein Training, um die Komplexität der Welt zu erkennen. Das muss Bildung sein.
In der Pädagogik Jesu ist dieser Stil ganz klar: Man findet ihn in einer seiner häufigsten Lehrformen, das heißt in den Gleichnissen. Wenn der Herr sie erzählt, dann spricht er nicht abstrakt, so dass es nur von einer Elite verstanden werden kann, sondern auf einfache Weise, die für alle verständlich ist, und alle verstehen es, alle. Das Gleichnis ist eine Erzählung, die es dem Zuhörer erlaubt, in das Erzählte einzutreten, indem er sich selbst einbringt und mit den Personen auseinandersetzt. Jesus zielt darauf ab, dass der Zuhörer nicht nur der Empfänger einer Botschaft bleibt, sondern dass er sich selbst ins Spiel bringt.
Im Vergleich zu diesem Stil birgt die heutige Globalisierung ein Risiko für die Bildung, nämlich die Verflachung auf bestimmte Programme, die oft politischen und wirtschaftlichen Interessen untergeordnet sind. Hinter dieser Uniformität verbergen sich Formen der ideologischen Konditionierung, die die Bildungsarbeit verfälschen, weil sie so zu einem Instrument wird, das ganz andere Ziele verfolgt als die Förderung der Menschenwürde und die Suche nach der Wahrheit. Ideologie »verkleinert« immer, sie lässt nicht zu, dass man sich entwickelt. Sie führt immer zum Kleiner-Werden. Deshalb müssen Sie darauf achten, sich gegen die wechselnden Ideologien zu wehren.
Weil wir »die Welt nicht verändern können, wenn wir nicht die Bildung verändern«1, ist es notwendig, gemeinsam darüber nachzudenken, wie man diese Veränderung in Gang setzen und voranbringen kann. Das Netzwerk Uniservitate des »Centro Latinoamericano de Aprendizaje y Servicio Solidario« hat die pädagogische Methode des »service-learning« oder »im Dienen lernen« entwickelt, bei dem das Verantwortungsbe-wusstsein der Studenten für die Gemeinschaft durch soziale Projekte gefördert wird, die ein integraler Bestandteil ihres Studiums sind. So machen die katholischen Bildungseinrichtungen ihrem Titel alle Ehre. Für eine Schule oder Universität bedeutet, »katholisch« zu sein, nicht, dass dem Namen nur ein ehrenvolles Adjektiv hinzugefügt wird, sondern es beinhaltet die Verpflichtung, einen besonderen pädagogischen Stil und eine Didaktik im Einklang mit den Lehren des Evangeliums zu pflegen. Das ist keine dem Evangelium entnommene Ideologie, nein, es ist Humanismus, ein dem Evangelium entsprechender Humanismus.
In dieser Hinsicht entspricht Uniservitate konsequent den Intentionen des Globalen Bildungspakts, indem es Bildungswege fördert, die für alle interessant sind. Ich habe Folgendes schon oft erwähnt: Ein afrikanisches Sprichwort sagt, dass man ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Errichten wir also ein »Dorf der Bildung«, in dem wir uns gemeinsam einsetzen können für die Förderung positiver und kulturell wertvoller menschlicher Beziehungen.
In dieser Nähe kann sicherlich eine Bildungsallianz unter allen Akteuren heranreifen, die zum Wachstum der Person in ihren wissenschaftlichen, politischen, künstlerischen, sportlichen und anderen Ausdrucksformen beitragen. Bildung ist in der Tat keine Tätigkeit, die mit dem Verlassen des Klassenzimmers oder der Bibliothek endet: Bildung setzt sich im Leben fort, sie setzt sich in Begegnungen und auf den Straßen fort, auf denen wir jeden Tag gehen. Dem anderen zuhören, über den Dialog nachdenken: das ist der Weg der Bildung.
Das Bündnis, zu dessen Unterstützung ich euch auffordere, muss Frieden, Gerechtigkeit und Gastfreundschaft unter allen Völkern hervorbringen und seine heilsame Wirkung in immer intensiverer Zusammenarbeit entfalten. Und dieses Bündnis wird in der Lage sein, den Dialog zwischen den Religionen und die Sorge für unser gemeinsames Haus zu fördern. Wir sind uns bewusst, dass die Aufgabe nicht einfach ist, aber sie ist spannend! Ausbilden ist ein Abenteuer, ein großes Abenteuer.
Angesichts dieser Herausforderung sind alle katholischen Schulen jeglicher Art und Stufe aufgerufen, mutig die notwendigen Veränderungen durchzuführen und die eigenen Aktivitäten an der Lehre Jesu, der unser aller Meister ist, auszurichten. Um die Einheitlichkeit der verschiedenen Initiativen zu unterstützen, lege ich euch vor allem zwei Prinzipien ans Herz, die dem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium entnommen sind: »Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee« (Nr. 231-233), immer, und »Das Ganze ist dem Teil übergeordnet« (Nr. 234-237).
In erster Linie sollten pädagogische Projekte die Schüler mit der sie umgebenden Realität in Kontakt bringen, damit sie aus der Erfahrung heraus lernen, die Welt nicht zu ihrem eigenen Vorteil, sondern im Geiste des Dienens zu verändern. Kontakt mit der Wirklichkeit, um nicht der bloßen Idee zu verfallen.
Zweitens sollte katholische Bildung eine »Kultur der Neugier« fördern. Habt ihr das schon einmal gehört? Ein großer Weiser hat es gesagt: Kultur der Neugier, was nicht dasselbe ist wie die Kultur des Geschwätzes, nein, das hat nichts miteinander zu tun. Kultur der Neugier, indem man die Kunst, Fragen zu stellen, wertschätzt. Das ist es, was uns die Kinder in der »Warum-Phase« lehren: »Papa, warum? Mama, warum?«
Ich erinnere mich an ein Erlebnis, das mich sehr berührt hat. Man hatte mich zu einer Operation gebracht. Ich weiß nicht, wie man das hier nennt, wir sagen an den »amígdalas« [Mandeln]. Damals gab es dafür noch keine Narkose, und es wurde auf sehr praktische Weise gemacht: Der Krankenpfleger nahm dich mit den Händen, hielt dich fest, damit du dich nicht bewegen konntest. Sie setzten dir einen Mundöffner auf, und mit zwei Zangen, zack, und das war’s. Und danach gaben sie dir Eis, ein Eis, um die Blutgerinnung zu fördern. Draußen ruft Papa ein Taxi und wir fahren nach Hause. Am Ende zahlt Papa. Am nächsten Tag, als ich sprechen konnte, sagte ich zu ihm: »Papa, warum hast du bezahlt?« »Weil…«, und er erklärte mir, was ein Taxi war. »Aber Papa, die ganzen Autos in der Stadt, gehören die nicht alle dir?« »Nein!« Und das war eine große Enttäuschung, weil Papa nicht der Besitzer aller Autos war. Das »Warum« der Kinder kommt manchmal aus einer Enttäuschung, aus einer Neugier. Auf die Fragen der Kinder hören und selbst lernen, Fragen zu stellen. Das hilft uns sehr. Und das nenne ich die »Kultur der Neugier«. Kinder sind neugierig, im guten Sinne des Wortes. Die Kunst, Fragen zu stellen.
Unterstützen wir junge Menschen dabei, sich selbst und die Welt zu erkunden, ohne das Wissen auf die Fähigkeiten des Verstandes zu reduzieren, sondern indem wir diesen vielmehr ergänzen durch die Geschicklichkeit fleißiger Hände und die Großzügigkeit eines leidenschaftlichen Herzens. Bildung geschieht nicht nur mit dem Verstand: Sie geschieht mit dem Verstand, mit dem Herzen und mit den Händen. Wir müssen lernen, zu denken, was wir fühlen und tun; zu fühlen, was wir tun und denken; zu tun, was wir fühlen und denken. Das ist Bildung: die dreifache Sprache.
Das ist ein guter Weg, um diese dringende Aufgabe zu bewältigen. Seht, in einer »flüssigen Welt« – mir gefällt diese Definition – »ist es notwendig, wieder vom [und mit dem] Herzen zu sprechen« (Enzyklika Dilexit nos, 9), denn »nur vom Herzen her werden unsere Gemeinschaften in der Lage sein, die verschiedenen Einsichten und Willen zu vereinen und zu befrieden, auf dass der Geist uns als ein Netz von Brüdern und Schwestern leiten kann« (ebd., 28). Der Feind, vielleicht der größte Feind, auf dem Weg des Reifens sind heute die Ideologien. Ideologien lassen uns nicht wachsen, Ideologien, unter welchem Vorzeichen auch immer, sind Feinde des Reifens.
Ich danke Ihnen für Ihre Arbeit. Möge der Herr in Ihnen die Leidenschaft für die Bildung immer lebendig erhalten. Ich segne Sie von Herzen und bitte Sie, für mich zu beten.
Fußnote
1 Vgl. Ansprache an die Teilnehmer am
4. Weltkongress von »Scholas Occurentes«, 5. Februar 2015.
(Orig. ital. in O.R. 9.11.2024)