Ein Blick auf den Brief des Papstes

Geschichte studieren, um den Glauben im Heute zu leben

29. November 2024

Man erzählt sich, dass der heilige Philipp Neri seinem Freund Cesare Baronio, dem Begründer der katholischen Geschichtsschreibung, zu sagen pflegte, er solle mindes-tens einmal im Monat kommen, um ihre Schüler in Kirchengeschichte zu unterrichten, weil ihnen das Wissen darüber fehle: Denn wenn man die Geschichte nicht kenne, könne es soweit kommen, dass man auch keine Kenntnis mehr vom Glauben habe. Diese Aufmerksamkeit für das Studium der Geschichte ist aktueller denn je, darauf weist der Brief von Papst Franziskus ganz klar hin. Wie bereits beim letzten Brief im vergangenen August, der dem Thema der Bedeutung der Literatur in der Bildung gewidmet war, so spricht auch hier der Nachfolger Petri vor allem zu den Pries-tern und denkt dabei an deren Ausbildung, aber er beleuchtet damit ebenfalls ein Thema, das nicht nur sie betrifft.

Kirchengeschichte zu studieren ist ein Weg, um die Erinnerung zu bewahren und die Zukunft aufzubauen. Und es ist die beste Weise, um die uns umgebende Wirklichkeit zu interpretieren. Die jungen Generationen dazu führen, sich in die Vergangenheit zu vertiefen, nicht den Schlagworten mit ihren Verkürzungen zu trauen, sich im Labyrinth von Millionen von – oft falschen oder zumindest tendenziösen und unvollständigen – Nachrichten zurechtzufinden, das ist eine Aufgabe, die uns alle betrifft.

Die zitierten Worte des heiligen Philipp Neri betonen den besonderen Zusammenhang zwi-schen dem christlichen Glauben und der Geschichte. Menschwerdung, Tod und Auferstehung des Gottessohnes sind ein Geschehen, das die Geschichte der Menschheit in zwei Teile – ein Vorher und ein Nachher – geteilt hat. Der katholische Glaube ist nicht nur Idee, Philosophie, Moral, sondern vielmehr Beziehung, Leben, Konkretheit, Geschichte. Wir sind Christen dank eines Zeugnisses, das weitergegeben wurde von der Mutter an den Sohn, vom Vater an die Tochter, von den Großeltern an die Enkel. Und wenn wir diese Kette zurückverfolgen, kommen wir zu den ersten Zeugen, den Apos-teln, die Tag für Tag das gesamte öffentliche Leben Jesu geteilt haben.

Diese Liebe zur Geschichte, begleitet vom Blick des Glaubens, lässt uns aufmerksam auch die weniger edlen und dunkleren Seiten im Buch der Kirchengeschichte betrachten. »Forscht ohne Voreingenommenheit, denn die Kirche braucht die Lüge nicht, sondern nur die Wahrheit.« Das hat Papst Leo XIII. 1889 bei der Eröffnung des damaligen Vatikanischen Geheimarchivs gesagt. Sicher bringt uns die vertiefte Beschäftigung mit der Geschichte in Kontakt mit den »Flecken« und »Falten« der Vergangenheit. Franziskus erklärt: »Die Geschichte der Kirche hilft uns, einen Blick auf die wirkliche Kirche zu werfen, um jene Kirche lieben zu können, die tatsächlich existiert und die aus ihren Fehlern und Niederlagen gelernt hat und weiter lernt.« Indem sie sich selbst auch in ihren dunk-len Momenten erkenne, werde sie fähig, die »Makel und Wunden« der heutigen Welt zu verstehen.

Der Blick des Papstes ist daher weit entfernt von jeglicher Form der Apologetik, die darauf abzielen würde, eine beschönigte Wirklichkeit zu präsentieren; und ebenso weit von ideologischen Tendenzen, die die Kirche stattdessen als ein Sumpf von Übeltätern darstellen wollen.

In Wirklichkeit bleibt eine Kirche, die sich wirklich mit allen »Falten« ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen weiß, eher demütig, weil sie sich bewusst ist: Der Herr ist es, der die Menschheit rettet, nicht pastorale Marketingstrategien oder der Protagonismus dieser oder jener gerade angesagten Persönlichkeit.

Von Andrea Tornielli